Kooperative Neuordnung eines besonderen innerstädtischen Ortes
Das Ratibor-Areal steht exemplarisch für die Herausforderungen urbaner Innenentwicklung in Berlin: ein Ort mit langer Nutzungsgeschichte, vielfältigen Akteursinteressen und begrenzten städtebaulichen Spielräumen. Seit Jahrzehnten bestehen hier gewerbliche und gemeinschaftliche Nutzungen nebeneinander, während gleichzeitig neue Bedarfe – insbesondere für Wohnraum und soziale Infrastruktur – von verschiedenen Akteur*innen neu formuliert und eingefordert werden.
Zugleich ist das Areal durch seine Freiräume und ökologischen Funktionen ein wichtiger Baustein im lokalen Stadtgefüge. Hinzu kommt der bundespolitische Auftrag der BImA, Wohnraum für Bundesbedienstete bereitzustellen, was neue Entwicklungsimpulse setzt und bestehende Strukturen in Frage stellt.

Aus dieser Überlagerung entsteht eine planerische „Baustelle“ im besten Sinne: ein komplexer Ort, an dem unterschiedliche Interessen, Ziele und Rahmenbedingungen aufeinandertreffen und in Einklang gebracht werden müssen. Das Innenentwicklungskonzept (IEK) soll hierfür einen kooperativen und fachlich fundierten Rahmen bieten. Es schafft Orientierung, bündelt Wissen und zeigt mögliche Entwicklungspfade auf – als Grundlage für spätere verbindliche Planungsverfahren.
Ausgangslage: Historisch gewachsenes Gewerbe in einem planungsrechtlichen Zwischenraum
Das Areal an der Ratiborstraße ist seit Jahrzehnten ein eigenständiges, lebendiges Quartier im Ortsteil Kreuzberg. Es vereint eine Mischung aus kleinteiligem Gewerbe, sozialer Nutzung, einer Kita, einem Biergarten, Werkhöfen und einem Wagenplatz. Zugleich ist es in ausgedehnte Grün- und Freiräume eingebettet, die dem Standort eine besondere ökologische Bedeutung verleihen und wichtige Funktionen für Klima, Artenvielfalt und städtische Erholung erfüllen. Diese vielfältigen Nutzungen sind über lange Zeit organisch gewachsen und prägen die Identität des Ortes. Gleichzeitig basieren sie jedoch auf kurzfristigen Pachtverhältnissen, die seit vielen Jahren zu einer besonderen Form von Planungsunsicherheit führen. Die Ursache liegt weniger in der Eigentümerschaft der Bundesanstalt für Immobilienaufgaben (BImA) selbst, sondern in ihrem Auftrag: Die BImA bewirtschaftet Bundesliegenschaften mit dem Ziel, sie für staatliche Bedarfe – insbesondere für die Bereitstellung von Wohnraum für Bundesbedienstete – verfügbar zu halten. Die langfristige Stabilisierung kleinteiliger, gewachsener Gewerbestrukturen gehört nicht zu ihrem Kernmandat.
Gleichzeitig signalisiert die BImA immer wieder, dass sie den Bestand respektiert und keine pauschale Verdrängung der heutigen Nutzer*innen anstrebt. Diese Rücksichtnahme steht jedoch neben der strategischen Zielsetzung, die Fläche perspektivisch für andere Nutzungen zu aktivieren. Aus diesem Spannungsfeld entsteht die gegenwärtige Praxis der kurzen Vertragslaufzeiten.
Für die Nutzer*innen – viele davon mit hohem Eigenengagement und Investitionsbereitschaft – bedeutet dies eine dauerhafte Unsicherheit: Investitionen werden verschoben, notwendige bauliche Verbesserungen unterbleiben, und langfristige Entwicklungsentscheidungen können kaum getroffen werden. So entsteht ein Zustand, in dem das Potenzial des Areals spürbar ist, seine Entfaltung aber durch fehlende Planungssicherheit gebremst wird.
Obwohl das Gelände im Planwerk als Grünfläche geführt wird, wurde es faktisch stets gewerblich genutzt. Viele der dort tätigen Betriebe und Nutzer*innen verbinden mit dem Ort nicht nur Arbeitsräume, sondern auch gemeinschaftliches Leben, nachbarschaftliche Einbindung und Formen der Selbstverwaltung.
Der Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg verfolgt seit vielen Jahren das politische Ziel, kleinteiliges und auch „störendes“ Gewerbe im innerstädtischen Raum zu halten und zu stärken. Das Ratibor-Areal ist dafür ein prominentes Beispiel.
Vorgeschichte: Ein langer und nicht geradliniger Prozess
Prozessüberblick
Seit 2016 gab es verschiedene Anläufe, die Zukunft des Areals planerisch zu bestimmen. Das Areal wurde vom Bezirk 2016 als potenzieller Standort für den Bau von Geflüchtetenunterkünften benannt. Hintergrund war die berlinweite Vorgabe an die Bezirke, geeignete Flächen für Unterbringungsplätze nachzuweisen, die damals mithilfe des Sonderbaurechts nach § 246 BauGB kurzfristig vom Senat hätten realisiert werden sollen. Im Zuge dieser Vorgaben wurde das Ratibor-Areal als mögliche Fläche identifiziert und in einen entsprechenden Prüfprozess gebracht.
Im Rahmen eines informellen, kooperativen Planungsprozesses versuchte der Bezirk, frühzeitig Einfluss auf die vom Senat vorgegebenen MUF-Planungen zu nehmen. Diese Planungen wären ansonsten überwiegend in den standardisierten Abläufen der landeseigenen Wohnungsunternehmen (damals vor allem BERLINOVO/BGG) entwickelt worden.
Der Bezirk entschied sich bewusst dafür, einen eigenen, dialogorientierten Prozess aufzusetzen, um eine für den Standort angemessene Alternative aufzuzeigen. Ziel war es, Planungsvarianten zu entwickeln, die gemeinsam mit den Nutzer*innen diskutiert werden konnten und die sowohl lokale Belange als auch fachliche Einschätzungen sowie die spezifischen räumlichen Bedingungen des Areals berücksichtigen. Auf diese Weise sollte gewährleistet werden, dass das vorhandene Wissen der ansässigen Nutzer*innen frühzeitig in die Standortgestaltung einfließt und mögliche Konflikte oder Fehlbewertungen rechtzeitig erkannt werden.
Die dazu von der „ARGE Ratibor14“ (coop.disco & QuartierHandwerk) erarbeitete Machbarkeitsstudie aus dem Jahr 2018/2019 zeigte deutlich, wie wichtig für diesen Standort eine kooperative Entwicklung, eine behutsame Verdichtung und der Schutz des Bestandsgewerbes sind.
Diese Studie stellte zugleich klar:
- Die Nutzer*innen sind grundsätzlich kooperationsbereit und wünschen Planungssicherheit.
- Veränderungen werden nicht pauschal abgelehnt, sondern konstruktiv begleitet – vorausgesetzt, sie sind nachvollziehbar und realistisch.
- Konfliktfrei lässt sich der Standort allerdings nur entwickeln, wenn Bestandsgewerbe, Grünraum, soziale Infrastruktur und Wohnraumbedarf in ein ausgewogenes Verhältnis gebracht werden.
Zwischen Land Berlin und der BImA wurde ein konkreter Verhandlungsstand über den Verkauf bzw. die Bestellung eines Erbbaurechts an der Liegenschaft erreicht. Im Zuge der haushaltsrechtlichen Prüfung stellte das Bundesministerium der Finanzen jedoch fest, dass dieser Verhandlungsstand nicht mit den maßgeblichen Regelungen der Bundeshaushaltsordnung und der Verbilligungsrichtlinie vereinbar sei und so nicht genehmigt werden könne. In der Folge wurden die Gespräche über Verkauf bzw. Erbbaurecht von Seiten des Landes Berlin vorerst nicht weitergeführt, und die damaligen MUF-Planungen wurden aufgegeben.
Damit blieb das Gelände über Jahre hinweg in einem Zustand der Unsicherheit, geprägt durch kurzfristige Verträge, fehlende Investitionsmöglichkeiten für die Betriebe und fortlaufende Spekulationen über eine mögliche Neuordnung.
Neuer Impuls: Die BImA setzt Wohnungsbau auf die Agenda
In den letzten Jahren hat die Bundesanstalt für Immobilienaufgaben (BImA) ihre strategische Ausrichtung geschärft: Sie sieht ihren Auftrag vorrangig darin, Wohnraum für Bundesbedienstete zu schaffen. Damit wurde ein neuer Schwerpunkt in die Diskussion eingebracht, der zuvor keine Rolle spielte – bzw. sogar eher von Anwohner*innen formuliert wurde, die für Geflüchtete gleich ein reguläres Wohnen und nicht bloße Unterbringung am Standort einforderten.
Die Frage, wie ein erheblicher Anteil an neuem Wohnraum auf dem Areal entstehen kann, ohne die bestehenden gewerblichen und sozialen Strukturen zu verdrängen, bildet seitdem den Kern der aktuellen planerischen Aufgaben.
Zugleich ist ein weiterer Aspekt hinzugekommen: Die Zukunft des bestehenden Kita-Standorts wird derzeit neu bewertet. Das Gebäude ist sanierungsbedürftig, und aufgrund sinkender Bedarfszahlen stellt sich grundsätzlich die Frage, ob der Standort langfristig in der bestehenden Form und Größe aufrechterhalten werden soll. Auch diese Überlegung trägt dazu bei, das Areal nochmals neu und im Gesamtzusammenhang zu betrachten.
Das IEK Ratiborstraße (ab 2025): Ein analytischer und kooperativer Rahmen
Mit dem Innenentwicklungskonzept (IEK) wird ein informelles, nicht bindendes Planungsinstrument eingesetzt, um die komplexen Interessenlagen zu bündeln und gemeinsame Grundlagen für spätere Planungsverfahren zu schaffen.
Ein IEK ist:
- analytisch: Es untersucht Bestand, Konflikte und Potenziale.
- kooperativ: Es bezieht Nutzer*innen, Nachbarschaft und Eigentümer mit ein.
- abstrakt: Es entwickelt Leitbilder und Varianten, aber keine Baurechte.
- vorbereitend: Die Ergebnisse können in ein Bebauungsplanverfahren überführt werden.
Ein IEK schafft keine rechtlichen Sicherheiten, aber es schafft Orientierung – und genau das ist hier notwendig. Die „Planergemeinschaft“ wurde als Dienstleister beauftragt, diesen Rahmen zu entwickeln und gemeinsam mit Bezirk, Nutzer*innen und Fachverwaltungen zu konkretisieren.
Besondere Bedeutung der Nutzer*innen
Die Betriebe und Initiativen am Ratibor-Areal verfügen über ein außergewöhnlich tiefes Wissen über die Funktionsweise des Ortes, seine Abhängigkeiten, seine räumlichen und sozialen Strukturen.
Im IEK-Prozess wird dieses Wissen ausdrücklich einbezogen:
- weil es die Grundlage für realistische Entwicklungsoptionen ist,
- weil es Missverständnisse vermeidet,
- weil es den Planungsprozess beschleunigt,
- und weil die Nutzer*innen – anders als oft angenommen – kooperative Partner*innen sind, die ein echtes Interesse an einer tragfähigen Zukunft des Areals haben.
Nicht alle Vorstellungen sind deckungsgleich – und das ist normal. Aber das grundsätzliche Ziel wird geteilt: Stabilität, Klarheit und eine nachhaltige Perspektive.
Planerische Herausforderungen
Die Aufgabenstellung ist komplex: Ein IEK muss unterschiedlichste räumliche, soziale, ökologische und wirtschaftliche Anforderungen miteinander verknüpfen und in ein nachvollziehbares Gesamtkonzept überführen. Dabei bewegt es sich im Spannungsfeld zwischen bestehender Nutzung, zukünftigen Bedarfen, Eigentümerinteressen und fachlichen Vorgaben. Gerade im Ratibor-Areal, wo Gewerbe, Grünräume, soziale Infrastruktur und potenzielle Wohnnutzungen eng verflochten sind, ist eine integrierte Betrachtung unverzichtbar.
Das IEK muss zentrale Fragen klären. Diese lassen sich in mehrere fachliche Themenfelder clustern:
A. Städtebau & Nutzungsausgleich
- Wie kann Wohnungsbau entstehen, ohne die bestehende gewerbliche Struktur zu verdrängen – und wie können gleichzeitig die Bestandsbetriebe in ihrer Funktionsfähigkeit gesichert werden?
- Welche räumlichen Neuordnungen sind für Zufahrten, Brandschutz und Lärmschutz notwendig?
- Wie bleibt der Charakter des Ortes erhalten, obwohl der Eigentümer andere Nutzungsziele verfolgt?
- Wie lässt sich die Zukunft des Kita-Standorts im Zusammenhang mit seiner baulichen Situation, sinkenden Bedarfszahlen und den räumlichen Anforderungen des Gesamtareals bewerten – und welche räumlich-städtebaulichen und sozialen Konsequenzen ergeben sich daraus?
B. Ökologie, Klima & Energie
- Wie kann die ökologische Funktion des Areals – insbesondere die unversiegelten Flächen, der Baumbestand und die klimarelevanten Grünräume – gesichert und weiterentwickelt werden?
- Wie können Nutzungskonflikte – insbesondere Lärmkonflikte zwischen handwerklichem Gewerbe und neuer Wohnnutzung – planerisch gelöst und in eine tragfähige Zonierung überführt werden?
- Wie können Klimaanpassung und Energieversorgung – etwa Mikroklima, Wasserhaushalt, Entsiegelungspotenziale oder Energieverbünde – im dicht bebauten Umfeld integriert werden?
C. Entwicklungspotenziale, Testentwürfe & Umsetzungsperspektiven
- Welche Potenziale für behutsame Bestandsverdichtung und bauliche Anpassungen in angrenzenden Bereichen bestehen – beispielsweise durch Befreiungen von Festsetzungen des Bebauungsplans VI-33a – und wie können diese in Testentwürfen geprüft werden?
- Welche räumlichen Vertiefungsbereiche erfordern detaillierte Testentwürfe und Variantenprüfungen, einschließlich städtebaulicher und funktionaler Kennwerte?
- Welche Aktivierungsstrategien sind notwendig, um Schlüsselgrundstücke für eine gemeinwohlorientierte Entwicklung nutzbar zu machen – etwa durch sektorale Bebauungspläne, Erbbaurechtsmodelle oder Generalmietverträge? Prozess & Umsetzungsperspektiven**
- Welche Aktivierungsstrategien sind notwendig, um Schlüsselgrundstücke für eine gemeinwohlorientierte Entwicklung nutzbar zu machen – etwa durch sektorale Bebauungspläne, Erbbaurechtsmodelle oder Generalmietverträge?
Diese Fragen haben direkte Auswirkungen auf die spätere städtebauliche Planung (B-Plan) – das IEK legt hierfür die Grundlagen.
Gemeinsame Orientierung: Was das IEK leisten soll
Das IEK soll:
- Transparenz herstellen über die Ausgangslage, die Zielkonflikte und die Rahmenbedingungen.
- Entwicklungsoptionen formulieren, die Wohnungsbau, Gewerbe, Grünraum und soziale Infrastruktur miteinander vereinbaren.
- Grundlagen für Gespräche mit der BImA schaffen, die eine langfristige Perspektive für das Areal ermöglichen.
- die Rolle der Nutzer*innen sichtbar machen und ihre Expertise sichern.
- die politischen Ziele des Bezirks zur Gewerbesicherung einbringen.
- eine tragfähige Basis für den nächsten Schritt – ein Bebauungsplanverfahren – schaffen.
Einladung zur Mitwirkung
Das Innenentwicklungskonzept (IEK) für das Ratibor-Areal wird als kooperativer Prozess gestaltet. Alle kommenden Schritte – Workshops, Stadtwerkstätten, Informationsveranstaltungen und Rückmeldemöglichkeiten – werden fortlaufend über diese Baustellen-Seite angekündigt und dokumentiert.
Auch über die Online-Beteiligungsplattform des Landes Berlin „mein.berlin.de“ können sich Interessierte am Prozess beteiligen. Dort können Stärken und Schwächen des aktuellen Zustandes benannt werden, und die Sammlung von Beiträgen wird Eingang in das IEK finden.
Wir laden alle Nutzer*innen, Anwohner*innen, Gewerbetreibenden und zivilgesellschaftlichen Initiativen ein, sich aktiv zu beteiligen. Ihr Wissen, Ihre Erfahrungen und Ihre Perspektiven sind entscheidend dafür, dass ein tragfähiges und gerechtes Zukunftsbild für das Ratibor-Areal entstehen kann.
Die „Baustelle #22: Ratibor-Areal“ bleibt deshalb nicht nur ein planerischer Raum, sondern auch ein öffentlicher Dialograum, in dem die nächsten Schritte gemeinsam entwickelt werden.

