Warum der Abriss funktionstüchtiger Gebäude klimapolitisch nicht vertretbar ist

Die unsichtbare Klimabilanz
Der Gebäudesektor ist für rund 40 % des weltweiten Ressourcenverbrauchs und über 35 % der CO₂-Emissionen verantwortlich – ein Großteil davon entfällt nicht auf den Betrieb, sondern auf die Herstellung von Baumaterialien und die Einrichtung von Gebäuden. Doch genau dieser Teil bleibt in der politischen und planerischen Debatte meist unbeachtet: die sogenannte graue Energie, welche über den gesamten Lebenszyklus des Gebäudes eingebracht wurde.
Graue Energie ist die unsichtbare Klimabilanz eines Gebäudes. Sie umfasst alle Emissionen, die bei der Produktion, dem Transport, der Lagerung, dem Einbau der Materialien und der Nutzung des Gebäudes entstehen – von der Stahlträgerfertigung über die Zementproduktion bis zum Teppichboden. In jedem bestehenden Gebäude steckt ein massiver CO₂-Rucksack, der mit dem Abriss auf einen Schlag vernichtet wird.
Laut Umweltbundesamt entstehen bei einem durchschnittlichen Wohnneubau in Deutschland rund 500–800 kg CO₂ pro Quadratmeter Wohnfläche – noch bevor die erste Kilowattstunde Strom verbraucht ist.
Der Mythos vom klimafreundlichen Neubau
Neubauten werden gern als klimafreundliche Lösung präsentiert – insbesondere dann, wenn sie nach KfW-Effizienzstandards oder Passivhausprinzipien errichtet werden. Doch diese Rechnung ignoriert den zentralen Punkt:
Ein klimafreundlicher Neubau muss zuerst einmal seine eigene Errichtung „abzahlen“ – energetisch und ökologisch. Und das dauert. Gemäß publizierten Modellrechnungen, etwa im Auftrag des BBSR, liegt der Break‑Even für einen Neubau gegenüber einem sanierten Altbau oft im Bereich von rund 45 Jahren unter idealisierten Bedingungen – bei häufigeren Erneuerungszyklen, etwa alle 30 Jahre, würde dieser Punkt praktisch nie erreicht.
Je früher CO₂ emittiert wird, desto länger wirkt es auf das Klima.
Das bedeutet: Erhalten ist klimapolitisch wirksamer als Kompensieren.
Graue Energie: die stille Ressource im Bestand
Altbauten – ob 60er-Plattenbau oder 80er-Sozialwohnblock – sind riesige Speicher grauer Energie. Ihr Abriss vernichtet nicht nur den gebauten Wohnraum, sondern auch die darin gebundene Energie. Selbst vermeintlich „unmoderne“ Bauten aus Beton haben eine hohe Lebensdauer und können durch gezielte Sanierung energetisch fit gemacht werden.
Studien wie der Demolition Atlas Europe von Correctiv zeigen: Allein durch den Verzicht auf Abriss könnten europaweit jährlich Millionen Tonnen CO₂ eingespart werden – bei gleichzeitigem Erhalt bezahlbaren Wohnraums.
Warum trotzdem abgerissen wird
Dass dennoch so häufig abgerissen wird, liegt nicht an fehlenden Alternativen – sondern an wirtschaftlichen Anreizen:
- Grundstückswerte steigen beim Neubau
- Steuervorteile wirken zugunsten von Neubauinvestitionen
- Abschreibungsmöglichkeiten lohnen sich vor allem bei Neubeginnen
- Planungsrechtliche Zielzahlen fördern Flächenverwertung statt Substanzpflege
- Sanierungsprojekte bergen oft finanzielle Risiken und verlangen einen großen Aufwand an Gutachten
Ein funktionierender Altbau ist aus Sicht vieler Investor*innen wirtschaftlich weniger attraktiv als ein Neubauprojekt mit höherem Mietniveau. Die Klimakosten dieses Handelns tragen jedoch die Allgemeinheit und künftige Generationen.
Politische Konsequenzen: Was sich ändern muss
Ein Paradigmenwechsel im Bauwesen bedeutet:
- Sanierung vor Abriss als gesetzlicher und förderpolitischer Grundsatz
- CO₂-Bilanzierung bei Abrissgenehmigungen verpflichtend einführen
- Förderung für die Bestandssanierung anstatt der bisherigen Konzentration von Fördermitteln auf Neubauprojekte
- Materialpässe und Wiederverwendungsquoten für Rückbauprojekte
- Vorrang für öffentliche und gemeinwohlorientierte Träger bei Bestandsentwicklung
In der Diskussion um eine neue Internationale Bauausstellung Berlin (IBA) ist das eine entscheidende Weichenstellung: Wer von Zukunft spricht, darf nicht bei der Zerstörung beginnen. Modellprojekte wie der Erhalt der Ostmoderne, die Sanierung von sozialem Wohnungsbau aus den 1970ern oder das Weiterbauen in genossenschaftlichen Quartieren müssen zum Maßstab werden.
Abriss ist keine klimaneutrale Lösung – er ist ein massiver Eingriff in die Ressourcengerechtigkeit.
Die Bauwende beginnt im Bestand. Dort, wo Menschen schon wohnen, wo soziale Netze bestehen, wo Energie bereits verbaut wurde. Die neue Währung im Bauwesen ist nicht mehr ausschließlich der Quadratmeter – sondern mindestens gleichwertig die Treibhausgas-Bilanz.
Weiterführende Informationen
- Magazin: Bauwende in der Praxis (international) – Herausragende Sanierungen mit sozialverträglicher Wohnraumnutzung
- Magazin: Umbaukultur statt Neubauverwertungslogik – Ein neues Narrativ geprägt durch Berliner Akteure
- UBA: Ressourcenverbrauch im Bauwesen
- BBSR: Wege zur Erreichung eines klimaneutralen Gebäudebestandes 2050